Schriftarchäologie

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2.3. Eine Gottheit aus dem alten Vorderen Orient im minoischen Kreta

In der Mitte der Seite A des Diskos von Phaistos steht ein rosettenartiger, achtblättriger Stern. Aufgrund der Vermutung einer engen Verwandtschaft der vorgriechischen Ideogramme aus Kreta mit jenen aus dem alten Vorderen Orient führt die Suche nach Ebenbildern der Rosette von Phaistos zu den vorkeilschriftlichen Schriftzeichen des Zweistromlandes. Dabei lässt sich folgende Reihe darstellen:

Kreta Mesopotamien Uruk Uruk
Anm. 1 LABAT S. 48 ATU Nr. 192 ZATU S. 175, Nr. 31

Von den hier abgebildeten Formen der Sterne aus Mesopotamien belegen Falkenstein, Labat und Green/Nissen, dass daraus später das Keilschriftzeichen AN entwickelt worden ist:

= AN = Gott, Determinativ vor Götternamen Anm. 2

Bei Deimel (ŠL S. 47, Nr. 13/4) ist zu erfahren, dass das Zeichen AN als Determinative "dingir" und "ilu" die Bedeutungen "Gott, Göttin" hatte.

Dieses Keilschriftzeichen steht sehr oft vor sumerischen und akkadischen Namen von Gottheiten, sodass die Vermutung eines Götternamens im innersten Fach auf Seite A des Diskos von Phaistos nahe liegt.

Françoise Grillot-Susini bestätigte in ihren "Éléments de grammaire élamite" (Paris 1987, S.9), dass das Zeichen DINGIR auch in der elamitischen Sprache den Namen von Göttern voranstand.

Das zweite Zeichen im innersten Fach besteht aus einem Kopf mit eingeschriebener 8 auf der Wange. Die Schwierigkeit besteht darin, dass zum Beispiel Labat insgesamt 33 Zeichen überliefert hat, die aus dem Ideogramm "Kopf" oft durch Einschreiben eines oder mehrerer weiterer Zeichen entstanden sind Anm. 3. Bei Green/Nissen finden sich immer noch 10 archaische Zeichenkombinationen aus Uruk, die - zum Teil stark stilisiert - einen menschlichen Kopf nachbilden Anm. 4.

Am nächsten kommt dem Kahlkopf vom Diskos mit dem zusätzlichen Zeichen auf der Wange das im Sumerischen und im Akkadischen gebrauchte Zeichen KA mit den Strichen (Gunu) an der Wange.

KA KA KA KA
Kreta Mesopotamien Uruk ZATU
Olivier
Le disque, S. 27, Nr. 3
Labat
S. 48.2
Green/Nissen
ZATU S. 226, Nr. 271
Green/Nissen
S. 368

Zum Keilschriftzeichen KA führt Labat unter DINGIR KA-DI den Gott Ištaran auf Anm. 5. Ištaran war nach Black und Green ein Gott, der vor allem in der Stadt Der an der Grenze zwischen Mesopotamien und Elam, östlich des Tigris von der frühdynastischen bis in die mittelbabylonische Zeit verehrt worden ist Anm. 6. Sein Minister war der Schlangengott Nirah, was dazu reizt, auf die Spiralform des Textes auf dem Diskos von Phaistos - die Form einer eingerollten Schlange? - hinzuweisen.

Deimel gibt in seinem Pantheon Babylonicum zur Zeichenfolge DINGIR-KA-DI den Namen dGU-silim und kommt zum Schluss "dKA.DI est dea" und "est etiam deus". Es macht den Anschein, dass dKA-DI die jeweilige männliche oder weibliche Stadtgottheit verschiedener Ortschaften sowie gelegentlich auch ein Flussgott gewesen sein dürfte Anm. 7.

Das dritte Zeichen im innersten Fach der Seite A des Diskos könnte eine Kornähre abbilden. Godart bezeichnet das Ideogramm jedoch als Pfeil und fügt bei, dass die Zeichen, die in der kretischen Hieroglyphenschrift Pfeile darstellen, Geschosse mit einer auffälligen Spitze zeigen, während bei den Pfeilzeichen sowohl in der Linear B als auch auf dem Diskos von Phasistos diese Spitze fehle Anm. 8.

Le disque Der Diskus ZATU ZATU
Olivier
S. 28, Nr. 10
Godart
S.127
Green/Nissen
S. 294, Nr. 551
Green/Nissen
S. 368

Zum sumerischen Bildzeichen "Pfeil" hat Falkenstein schon 1936 vermerkt, das Zeichen für ti "Leben, am Leben erhalten" sei das Bild eines Pfeiles, das zum sumerischen gis-ti "Pfeil" gehöre, das aber auf das bildhaft schwer zu beschreibende homonyme ti(l) "Leben" übertragen worden sei Anm. 9.

Falkenstein erwähnt ein Beispiel aus den Gemdet Nasr-Tafeln mit dem Personennamen en-lil-ti "Enlil erhalte am Leben" Anm. 10.

Im SL von Deimel (S. 150) ist zum Zeichen TI festgehalten, dass das gleiche Pfeilzeichen swohl für "ti" als auch für "di" verwendet worden ist.

Werden nun für die drei Zeichen "Rosette", "Kahlkopf" und "Pfeil" ihre mesopotamischen, vorkeilschriftlichen Werte eingesetzt, so entsteht das Wortgefüge dKA-TI oder iluKA-DI.

Klarheit bringt eine Stelle aus einer Inschrift des Königs Anu-Mutabil von Der. In dieser Inschrift wird die Zeichenfolge iluKA-DI mit "Göttin Ištaran" übersetzt Anm. 11.

Es geht also nicht um eine männliche, sondern um eine weibliche Gottheit! Eine Göttin mit einem Schlangenkult! Dafür hat die Archaeologie in Kreta schon früher Belege an den Tag gefördert:
In Knossos sind mehrere Fayence-Statuetten gefunden worden. Sie stellen eine elegant gekleidete, barbusige Frau mit schlanker Taille dar. In ihren Händen oder am Körper winden sich Schlangen. Die Archaeologen haben sie "Schlangengöttin" genannt. Es dürfte sich dabei um Ištaran handeln.

Anm. 1: Le disque de Phaistos, Jean-Pierre Olivier, Ecole française d'Athènes, Athen 1975, S. 30, Nr. 38
Anm. 2: Die Keilschrift, B.Meissner/K. Oberhuber, Walter de Gruyter & Co, Berlin 1967, S. 59
Anm. 3: LABAT S. 48.2 - 53
Anm. 4: ZATU S. 226 (Nr. 271 -274) und S. 266/267 Nr. 437 - 442)
Anm. 5: LABAT S. 49.2
Anm. 6: Gods, Demons and Symbols of Ancient Mesopotamia, Jeremy Black and Anthony Green, British Museum Press, London 1998, S. 111
Anm. 7: Pantheon Babylonicum, Anton Deimel, Pontificii Instituti Biblici, Rom 1914, S. 153 und 91
Anm. 8: Der Diskus von Phaestos, Louis Godart, Editions ITANOS, Rom 1994, S. 127 und 128
Anm. 9: ATU S. 33
Anm. 10: ATU S. 33
Anm. 11: Alt-šumerische und akkadische Königsinschriften, F. Thureau-Dangin, Vorderasiatische Bibliothek, Leipzig 1907, S. 177


Hans Glarner, CH 8702 Zollikon Diese Seite (www.schriftarchaeologie.ch/gruppen_2_3.php) wurde aktualisiert: 20.03.09

Hans A. Glarner
CH 8702 Zollikon

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