Schriftarchäologie

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2.2. Ein Fürst aus dem alten Vorderen Orient im archaischen Kreta

In einem Beitrag über frühe Schriften im alten Vorderen Orient zeigt Nissen an der Spitze einer Liste von Titeln und Berufsnamen die Zeichenkombination:

(ca. 3000 v. Chr.)

Den Teil rechts mit dem hochgestellten Rechteck mit zwei Querstrichen identifiziert Nissen als das Keilschriftzeichen NAM2 Anm. 1.

= = NAM2, TUG2

Deimel hat festgestellt, dass NAM für ein Keilschriftzeichen besonders viele Bedeutungen übernommen hat. Dabei dürfte NAM2 am ehesten die Grundbedeutungen "Gewebe, Kleid" gehabt haben Anm. 2. Einen Hinweis auf die Bedeutung des Zeichens NAM2 kann möglicherweise folgende Parallele bringen:

= NIN
Evans Anm. 3 ATU
Nr. 22
ZATU
S. 256, Nr. 400
ŠL
S. 1018, Nr. 556
   

Während die Erforscher archaischer vorgriechischer Schriften, wie Evans, Godart und andere beim Zeichen "Frau" von einer "Frau mit blossen Brüsten" ausgegangen sind, ist aus sumerischen Abbildungen bekannt, dass dort in archaischer Zeit wohl nicht die Nacktheit das Besondere war. Vielmehr ist in den frühen Bild- und Schriftzeichen im Gegenteil die Bekleidung vermerkt worden. Die Übersetzung der aus den Zeichen "Frau" und "Kleid" entstandenen Keilschriftkombination entspricht nach Deimel einer "bekleideten Frau = Herrin".

Für den linken Teil der Zeichenkombination bei Nissen könnte sich folgende Parallele ergeben:

= = = BAL
FRÜHE
(S.156)
  ATU
Nr. 662
  ŠL
S. 29, Nr. 9
   

Falkenstein hält in ATU S. 55 fest: "Die Doppelaxt wird vielleicht durch das Zeichen Nr. 662 dargestellt", und er gibt dafür das gleiche Zeichen wie Nissen.

Der Versuch, die Zeichen für "Doppelaxt" und "Gewebe, Kleid" in Linear A zu finden, führt zu folgendem Ergebnis aus zwei Fundstellen:

Hagia Triada
HT 1.4
Iouktas
Za 3
GORILA V
S. XXIX, Nr. AB 08
GORILA V
S. XXIX, Nr. AB 08

 

Hagia Triada
HT 7a.2
Iouktas
IO Za 3
GORILA V
S. XXXVII, Nr. AB 57
GORILA V
S. XXXVII, Nr. AB 57

Sollte nun die Kombination dieser beiden Zeichen auch in der Linear A vorkommen, so wäre wohl mit einem frühkretischen Fürsten zu rechnen, dessen Titel aus dem archaischen, vorderasiatischen Sprachumfeld stammt. Und in der Tat kamen bei Ausgrabungen von Palästen und Kultstätten des archaischen Hellas Zeichenkombinationen ans Licht, an deren Anfang das königliche Zeichen der Doppelaxt, gefolgt vom hochgestellten Rechteck mit den zwei Querstrichen, steht.

So haben die Archäologen zum Beispiel in Symi (Kreta) folgende Zeichenkombination gefunden:

GORILA V
S. 64, SY Za 2

Nissen hat darauf hingewiesen, dass die sumerische Zeichenkombination "Doppelaxt/Kleid" später mit "šarru = König" in die akkadische Sprache übersetzt worden ist Anm. 4. Vor diesem Hintergrund lässt sich vermuten, dass der "bekleidete Träger der Doppelaxt" auch in Kreta ein vornehmer Herrscher, Fürst oder König gewesen sein dürfte.

Anm. 1: Frühe Schrift und Techniken der Wirtschaftsverwaltung im alten Vorderen Orient, Hans J. Nissen, Peter Damerow, Robert K. Englund, Verlag franzbecker, Bad Salzdetfurth, 1991, S. 156
Anm. 2: SL, S. 969 - 987, Nr. 536.
Anm. 3: Scripta minoa, Arthur J. Evans, The Clarendon Press, Oxford 1909, S. 276, Nr. 6.
Anm. 4: Frühe Schrift..., S. 156


Hans Glarner, CH 8702 Zollikon Diese Seite (www.schriftarchaeologie.ch/gruppen_2_2.php) wurde aktualisiert: 17.07.07

Hans A. Glarner
CH 8702 Zollikon

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